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„King Kong Theorie“ und „Liebes Arschloch“– Virginie Despentes

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King Kong Theorie und Liebes Arschloch von Virginie Despentes
beide viel zu lange ausgeliehen…

Diese zwei Bücher von Virginie Despentes liegen seit Monaten neben meinem Schreibtisch, mit vielen Plastikpickerln drin, und ich habe sie nie weggeräumt, weil ich unbedingt noch ausführlicher drüber schreiben wollte. Das hat jetzt wiederum auch wieder ein paar Wochen gedauert – ich unterschätze regelmäßig, dass ich für einen simplen Buchpost selbst bestens vorbereitet ein paar Stunden vorm Computer sitzen muss. Im Mai habe ich zu King Kong Theorie Folgendes festgehalten:

King Kong Theorie von Virginie Despentes, das seit Monaten auf meinem Schreibtisch in der Arbeit lag (die Podcastfolge dazu wird aber erst in ein paar Wochen erscheinen), und über das ich mich wegen seines Ausgangspunkts (der Vergewaltigung der Autorin als junge Frau) nicht recht drübertraute. Tatsächlich ist eines der Hauptargumente des Essays, Vergewaltigungen nicht mehr als das Unsagbare, „private“, ins persönliche gedrängte Leid, an dem eine Frau zu zerbrechen hat, zu framen, sondern sie als das zu benennen, was sie sind: männliche Gewalt, die durch die patriarchale Gesellschaft legitimiert wird.

Zuckersüß 447

Liebes Arschloch ist ein Briefroman zwischen Oscar, einem drogenabhängigen Schriftsteller, der einen metoo-Skandal zu verantworten hat, Rebecca, einer alternden drogenabhängigen Schauspielerin, die gleichzeitig eine Kindheitsfreundin seiner Schwester war und Zoe, der ehemaligen Verlagsassistentin von Oscar, der diese so lange belästigte, bis sie ihren Job schmiss. Es ist eine Geschichte über den Versuch, Sucht zu überwinden, den Corona-Lockdown, Klassismus, Reue und Freundschaft.

Ich fand es spannend, welchen dieser Charaktere Viriginie Despentes Gedanken in den Mund legte, die sie 15 Jahre zuvor in King Kong Theorie formuliert hatte. Zum Beispiel beim Kernthema Vergewaltigung:

„Das Wort der Frau, die einen Mann der Vergewaltigung anklagt, ist zuerst ein Wort, das man bezweifelt. Doch schließlich habe ich akzeptiert, dass es ständig geschieht. Diese Tat vereint uns, sie verbindet alle Klassen, Alter, Schönheiten, sogar Charaktere. Wie erklärt es sich also, dass du fast nie die andere Seite hörst: „Ich habe die und die vergewaltigt, an dem und dem Tag, in der und der Situation?“ Weil die Männer weiter tun, was die Frauen jahrhundertelang zu tun gelernt haben: Sie nennen es anders, färben es schön, biegen es zurecht, vor allem benutzen sie für das, was sie getan haben, nicht das Wort“

King Kong Theorie, S. 38

„Ich will das Opfer nicht heiligsprechen. Natürlich lügen Frauen manchmal. Sei es, dass sie skrupellos sind, sei es, dass sie das für legitim halten. Aber der Prozentsatz der Märchenerzählerinnen unter den Opfern ist klein, während der Prozentsatz der Vergewaltiger in der männlichen Bevölkerung euch eine Warnung sein sollte, wie schlecht es um eure Sexualität steht. Doch ich sehe, die Möglichkeit eienr ungerechtfertigten Anklage schockiert euch mehr als die Tatsache, dass es unter euren Freunden Vergewaltiger gibt.“

Liebes Arschloch, S. 91 (Rebecca)

Scham, die Virginie Despentes im Falle von Vergewaltigten für völlig fehl am Platz (und wohl auch schädlich) hält, taucht auch in beiden Fällen auf.

„Camille Paglia ist wohl die umstrittenste unter den amerikanischen Feministinnen. Sie schlägt vor, die Vergewaltigung als Risiko zu denken, das unserer Situation als Mädchen inhärent sei und das wir eingehen müssten. Eine unerhörte Freiheit durch Entdramatisierung. Ja, wir waren draußen, in einem Raum, der nicht für uns bestimmt ist. Ja, wir haben überlebt, statt zu sterben. Ja, wir waren im Minirock, allein, ohne männliche Begleitung, ind er Nacht, ja wir waren dumm und schwach, unfähig ihnen die Fresse einzuschlagen, schwach, weil Mädchen lernen, schwach zu sein, wenn man sie angreift. Ja, das war uns passiert, aber zum ersten Mal begriffen wir, was wir getan hatten: Wir waren raus auf die Straße gegangen, weil bei Papa-Mama nicht viel los war. Wir waren das Risiko eingegangen, wir hatten den Preis bezahlt, und statt uns zu schämen, dass wir lebten, konnten wir beschließen aufzustehen und uns so gut wie möglich davon zu erholen.“

King Kong Theorie, S. 44f

„Ich empfand auch keine Scham, als ich mit vierzehn vergewaltigt wurde. Ich wusste, dass der fette Typ, der da auf mir lag, der mich auf der Straße verfolgt hatte und doppelt so viel wog wie ich, ein Arschloch war. Ich empfand keine Scham. Später habe ich Frauen getroffen, die mir erklärten, doch natürlich hätte ich Scham empfunden, ich hätte sie mir bloß nicht eingestanden. Ich hasse es, wenn man mir sagt, was ich zu fühlen habe. Ich empfand keine Scham. Ich wollte ihn umbringen und war wütend, dass ich körperlich zu schwach dafür war, das schon. Aber Scham? Träum weiter! Er müsste sich schämen. Das wusste ich schon damals. In letzter Zeit denke ich gelegentlich wieder daran, wenn ich die Behauptung höre, dass man sich von einer Vergewaltigung nie erholt, und gerate ins Grübeln.“

Liebes Arschloch, S. 252 (Rebecca)

Raus auf die Straße, weil bei Papa-Mama nicht viel los ist, das erinnert mich an diese Doku von Regina Schilling über Aktenzeichen xy ungelöst. Darin argumentiert sie, dass diese erste True-Crime-Show der Welt mit der oft grausamen Darstellung von (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen ein klares Ziel hatte: (junge) Frauen zu ängstigen und sie an ihren Platz – daheim beim Vater/Mann – zu verweisen (s. Wem wollte Eduard Zimmermann Angst machen und Warum – Übermedien). Den Spin-Artikel von Camille Paglia aus dem Jahr 1994, den Despentes in King Kong Theorie als ihren Aha-Moment bezeichnete, konnte ich leider nicht ergoogeln. Stattdessen bin ich über diese Kritik an Paglia gestolpert, 2014 in Salon: Camille Paglia thinks rape is intrinsic to men’s nature — and a lot of men are like, „This is awesome!“. Und jetzt wo ich den Ursprungskommentar dazu lese, kommt mir Paglia arg essentialistisch, biologistisch und reaktionär vor, also nicht unbedingt wie eine Denkerin, auf deren Ideen ich eine feministische Theorie aufbauen würde…

Virginie Despentes anarchistische Tendenzen und ihre Kritik am (französischen?) Staat scheinen auch in beiden Büchern deutlich auf:

„Heute hören wir Männer jammern, die feministische Emanzipation raube ihnen ihre Männlichkeit. sie sehnen sich nach einem früheren Zustand zurück, als ihre Kraft in der Unterdrückung der Frauen wurzelte. Sie vergessen, dass dieser politische Vorteil immer einen Preis hatte: Die Körper der Frauen gehören den Männern nur dann, wenn die Körper der Männer in Friedenszeiten der Produktion und in Kriegszeiten dem Staat gehören. Die Beschlagnahmung der Frauenkörper findet gleichzeitig mit der Beschlagnahmung der Männerkörper statt. Die einzigen Gewinner dabei sind ein paar Herrschende“

King Kong Theorie, S. 28

„Mit Drogen ist es wie mit der Gewalt. In den Händen des Staats sind sie legitim. In den Händen des EInzelnen strafbar. Wenn ich eine Droge konsumiere, die der Arzt mir verschreibt, werde ich ein rechtmäßiger Junkie. Mir ist aufgefallen, dass Fixer oder Kokser sich besonders schwer damit tun, Antidepressiva zu nehmen. Wenn man von den legalen Drogen der Psychatrie abhänig ist, wenn man die Drogen nimmt, die der Arzt empfiehlt, ist mein eine gute Arbeitskraft. Ein nützliches Glied der Wirtschaft. Das ist der tiefere Sinn, wenn du dich wegballerst. Du verweigerst dich deinem Land“

Liebes Arschloch, S. 107 (Rebecca)

2006 war in Despentes Beobachtung das Jahr, „wo alle mit winzigen mobilen Computern in der Tasche herumlaufen, zugleich Fotoapparat, Telefon und Datenbank mit jeder Menge Musik“. Mittlerweile sind diese Teile auch noch vernetzt, was zu ganz neuen Dynamiken geführt hat, mit denen sich Zoé nach ihrer #metoo-Veröffentlichung in Liebes Arschloch herumschlagen muss:

„Die Maskulinisten haben den Feministen in den sozialen Netzwerken den Krieg erklärt, sie wissen, ihre Strategie funktioniert, und sie können auf die Komplizenschaft der Netzwerke zählen, weil die in den Händen von Maskulinisten sind. Was mir widerfährt, ist politisch. Psychater bilden sich ein, sie könnten den Patienten heilen, ohne die Politik zu heilen. Wenn auf meinem Handy pausenlos Kommentare auftauchen, die meinen Selbstmord oder meinen Tod fordern, ist das eine Folter, die es früher nicht gab und die mein kognitives System außer Gefecht setzt. Das ist das Ziel. Ich würde gern mit einem Psychologen sprechen, der mir einen anderen Rat geben könnte als, „schweigen Sie für immer, geben Sie nach, verschwinden Sie, posten Sie nichts mehr. Befolgen Sie unseren Rat: Hören Sie auf, sich in den sozialen Netzwerken zu tummeln, ziehen Sie lieber Grünpflanzen auf dem Küchenfensterbrett.“

Liebes Arschloch, S. 258 (Zoé)

Die für mich stärkste Stelle in Liebes Arschloch betrifft schon wieder Gewalt gegen Frauen. Die Analogie, die Rebecca hier zieht, werde ich mir merken. (s. a. Bald alle Frauen ermordet: Regierung streicht Töchter wieder aus Hymne – Die Tagespresse zum 22. Femizid 2023 in Österreich):

„Stell dir mal vor, statt um Frauen, die von Männern getötet werden, ginge es um Angestellte, die von ihren Chefs getötet werden. Die öffentliche Meinung würde viel heftiger reagieren. Alle zwei Tage hörte man, dass wieder ein Chef seinen Angestellten getötet hat. Man würde denken, das geht zu weit. Man muss zur Arbeit gehen können, ohne dass man riskiert, erwürgt oder erstochen oder erschossen zu werden. Wenn alle zwei Tage ein Angestellter seinen Chef töten würde, wäre das ein nationaler Skandal. Stell dir die Schlagzeilen vor: Der Chef hatte dreimal Anzeige erstattet und daraufhin wurde der Angestellte der Firma verwiesen, aber er lauerte ihm vor seinem Haus auf, streckte ihn aus nächster Nähe nieder. Wenn du die Parallele ziehst, begreifst du, wie nachsichtig man gegenüber dem Femizid ist. Die Männer dürfen dich töten. Das schwebt über unseren Köpfen. Man weiß es. Als würde man dir raten, russisches Roulette zu spielen.“

Liebes Arschloch, S. 71 (Rebecca)

Wie diese ganzen Zitate zeigen, ist Virginie Despentes in ihren Beschreibungen nicht gerade zimperlich und in nicht wenigen Positionen ziemlich radikal. Ich würde empfehlen, die Bücher nur in ausgeglichenem Zustand zu lesen, mir gingen sie recht nahe. Nach knapp 500 Seiten tue ich mich allerdings immer noch schwer, Despentes im größeren feministischen Diskurs einzuordnen: Sie ist schon irgendwie radikal-differenzfeministisch, aber gleichzeitig war sie viele Jahre mit Paul B. Preciado, einem trans Mann und Queertheoretiker liiert. Sie hat als Prostitituierte gearbeitet und macht sich über den Begriff sex work lustig (sagt der New Yorker). Viele ihrer Standpunkte und besonders die Figur der Rebecca in Liebes Arschloch kommen mir speziell französisch vor, ohne dass ich das jetzt konkret belegen könnte. Ich habe versucht, durch Kritiken des Buchs in französischen Medien etwas schlauer draus zu werden, leider waren fast alle paywalled. Bei France Culture habe ich eine ohne Paywall gefunden, Lucile Commeaux verreißt Cher connard dort quasi, weil die Figuren ihrer Ansicht nach einander zu ähnlich klingen und zu formulaisch Ideen/Konzepte abhaken. Lustigerweise teilt sie meine Beobachtung, dass der Roman einer eindeutigen politischen/feministischen Positionierung entgeht:

Je m’étonne que certains critiques et journalistes de la presse réactionnaire s’en prennent au livre comme à une bible du wokisme et à l’inverse qu’il soit porté aux nues par la presse de gauche, parce qu’il échoue assez étonnamment à être un objet idéologique. Ce récit est un échec politique et ça tient à quelque chose de tout à fait formel. Despentes rate la forme épistolaire.

Critique : „Cher connard” de Virginie Despentes – France Culture

Naja, ich muss wohl noch mehr französische feministische Literatur lesen (am Besten angefangen bei Beauvoir, die ich nur aus Zusammenfassungen kenne, und das trotz einem ganzen Semester voller Gender Studies-Kurse vor langer Zeit)…

Virginie Despentes: King Kong Theorie. KiWi (2006), 156 Seiten.
Virginie Despentes: Liebes Arschloch. KiWi (2023), 332 Seiten.


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